Heute gilt: Verpassen es Unternehmen, die Digitalisierung rechtzeitig für sich zu nutzen, landen sie schnell auf dem Abstellgleis. Doch gilt dies auch für das B2B-Geschäft? Die Experten des CiM, Professor Christian Belz und Dr. Michael Weibel, haben die Bedeutung von Digitalisierung für B2B-Unternehmen diskutiert.
Kaum ein Schlagwort ist in der Wirtschaft so allgegenwärtig wie Digitalisierung. Wird die Wirkung von Digitalisierung überschätzt?
Belz: Digitalisierung als Trend ist alt, unspezifisch und doch in aller Munde. Unternehmen bündeln eifrig ihre bisherigen Initiativen unter diesem Stichwort. Berater erkennen scheinbar flächendeckend den neuen Zugang zu ihren Kunden. Bloss verändert reines Geschwätz nur wenig. Das Stichwort Digitalisierung gilt es zu konkretisieren.
Gerade im Verkauf ist Digitalisierung omnipräsent und wird als Allheilmittel angesehen. Allerdings ist es wenig ergiebig, mit der technologischen Lösung zu beginnen und erst dann nach einer geeigneten Verkaufsanwendungen zu suchen. Am Anfang stehen Kundenprozesse, Verkaufsarbeit, angestrebte Kommunikation und Zusammenarbeit mit Kunden sowie Möglichkeiten der Standardisierung und Modularisierung. Kurz: Digitalisierung wird zwar nicht überschätzt, ist aber der falsche Zugang. Oft wird das Ross damit quasi von hinten aufgezäumt. ‚Solutions looking for a problem‘ nennt man das.[/vc_column_text]

Nimmt B2B in diesem Zusammenhang eine Sonderrolle ein?
Weibel: Erstens ist B2B sehr vielfältig und die Unterschiede zwischen Unternehmen sind enorm. Zweitens sind die Leistungen der B2B-Unternehmen oft komplex. Drittens haben manche B2B-Unternehmen nur wenige Kunden. Das beeinflusst das Mengengerüst. Digitalisierung lohnt sich nur, wenn wir grosse Zahlen haben und Skaleneffekte erzielen können. Dies sollten B2B-Unternehmen bedenken, bevor sie sich kopflos für den Einsatz von digitalen Lösungen entscheiden, nur weil diese gerade ‚en vogue‘ sind.
Wo sehen Sie realistische Ansätze der Digitalisierung für B2B-Unternehmen?
Belz: Vorreiter der Digitalisierung im B2B-Bereich waren vor allem Anbieter mit technischem Hintergrund. Im Rahmen von Industrie 4.0 galt es, die Kunden in Marketing und Verkauf für neue Leistungen zu gewinnen. Im Hightech-Bereich ist nämlich fast alles ‚high‘: die Technik, das Risiko, die Geschwindigkeit. Nur eines ist ‚low‘: die Aufnahme beim Kunden.
Im Marketing gilt es, diese Initiativen fortzuführen. Aber bitte nicht mit den gleichen Fehlern. Es genügt nämlich nicht, überall zu messen und Sensoren anzubringen. Wir sollten mit dem entstehenden Datenwust auch etwas anfangen. Im Verkauf lassen sich Kundeninspiration in frühen Kaufphasen, die eigene Bedarfsabklärung, die umfassende Kundenevaluation oder ‚self advisory‘ für einfache Transaktionen digital übersetzen und unterstützen. Erfolgskriterien sind dabei Verbreitung, Wirksamkeit und Kosten. Unternehmensintern können neuartige Kommunikationslösungen dabei helfen, Distanzen zu überwinden und Silos zu vermeiden.
Weibel: Strategisch spielt es eine Rolle, ob die Digitalisierung neue Geschäftsmodelle in der eigenen Branche ermöglicht. Vor diesem Hintergrund sollten sich Anbieter folgende Fragen stellen: Entstehen neue Wettbewerber, die zu tieferen Kosten operieren und somit die eigene Wettbewerbsfähigkeit schmälern? Kann es auch im B2B-Geschäft sinnvoll sein, bereits etablierte digitale Mittler, wie z.B. Amazon Business oder Alibaba, einzubeziehen? Oder ist es am wirksamsten, den Markt mit eigenen digitalen Lösungen zu adressieren, um enge Nischen beispielsweise über einen Webshop auf globalem Level zu erschliessen? Dabei ist Vorsicht geboten: Digitalisierung hat dann am meisten Wirkung, wenn die Lösungen neu gedacht und nicht einfach auf das Bestehende aufgestülpt werden.
Operativ gilt es, die wirksamsten Instrumente aus dem digitalen Werkzeugkasten für das eigene Unternehmen auszuwählen, um den Kundenbearbeitungsprozess zielgerichtet zu unterstützen. Die Bandbreite an Möglichkeiten reicht von Community Marketing über Augmented Reality bis hin zu Gestaltung von digitalen Kundenprozessen, Chatbots, etc., um nur einige Beispiele zu nennen. Besonders wirksam ist eine Verbindungen zwischen online und offline Kommunikation. Broschüren lassen sich um webbasierte Inhalten, wie Videos oder Slideshows, erweitern, auf die der Kunde beim Durchblättern über eine App zugreifen kann. Immer ist jedoch auch Vorsicht am Platz: Spielereien genügen nicht. Manchmal geben Best Practices im eigenen Markt oder fremden Branchen wichtige Impulse dafür, wie Digitalisierung zielgerichtet eingesetzt werden kann.

Sind Kunden ihren Lieferanten in Sachen Digitalisieren weit voraus und schaffen damit neue Spielregeln auf dem Markt?
Belz: Auf alle Fälle standardisieren immer mehr B2B-Kunden ihren Einkauf Schritt für Schritt. Ausschreibungen und E-Procurement sind die Stichworte dazu. Lieferanten müssen sich in den gesetzten Spielregeln bewegen. Damit werden bisherige Chancen der Differenzierung für Anbieter geschmälert.
Weibel: Aber damit spielt besonders eine Rolle, was vor und nach den engeren Beschaffungsprozessen gestaltet wird. Vor dem E-Procurement gilt es bereits, eine qualifizierte Geschäftsbeziehung aufzubauen und die laufende Zusammenarbeit ist oft der Start für eine Erweiterung und Vertiefung der Zusammenarbeit. Unternehmen brauchen eine Eintrittskarte für den guten Platz bei Beschaffungen.
Wie verändert sich die Rolle von Vertrieb und Marketing durch die zunehmende Digitalisierung?
Belz: Gemeinsame Aufgabe von Vertrieb und Marketing ist es, den Kunden zum Kauf zu führen. Kunden legen im B2B-Bereich bereits 60% ihres Weges zum Kauf alleine zurück. Erst dann setzen die Kontakte mit Lieferanten ein. Beispielsweise informieren sie sich vorher im Internet und bereiten sich intern für Beschaffungen vor. Besonders Marketing muss erreichen, dass wir im Kundenprozess bereits früh und positiv einsteigen können. Das nennt sich Lead Management. Der Verkauf soll qualifizierte Kundenleads übernehmen und weiter verfolgen. Und: Im besten Fall können sich Kunden schrittweise selbst qualifizieren und wir helfen ihnen dabei.
Wie sollten B2B-Unternehmen Ihrer Meinung nach mit dem Megatrend umgehen?
Weibel: Alles wird neu. Kein Stein bleibt auf dem andern. So prophezeien es die Gurus der Digitalisierung. Von wegen – der Grundsatz der Innovation ist nämlich: Alles bleibt. Neue Systeme ersetzen meistens keine alten, sie ergänzen sie. Und: Pioniere sind oft weniger erfolgreich als Nachfolger, diese vermeiden nämlich grobe und teure Fehler.
Vorwärts zum Wesentlichen ist keine schlechte Empfehlung. Klassiker bleiben Mehrwertgeschäft, Zusammenarbeit mit Key Accounts und Small Accounts, Kundenprozesse, Umgang mit Ausschreibungen, Value Selling, Dokumentenmanagement, Messen, … – die Liste liesse sich leicht erweitern. Vielleicht hilft Digitalisierung bei diesen Aufgaben, meistens aber wenig. Unternehmen brauchen relevante Themen und Inhalte für ihre attraktiven Kunden. Das ist die beste Voraussetzung. Sie lassen sich dann mit verschiedenen Instrumenten kommunizieren.
Belz: In Marketing und Vertrieb haben B2B-Unternehmen oft noch viele Hausaufgaben zu lösen, die weit wichtiger sind als Digitalisierung. Manchmal kriegt man den Eindruck, dass die Verantwortlichen mit neuen Themen gerne den aktuellen Herausforderungen ausweichen. Generell bin ich der Meinung, dass im Zusammenhang mit Digitalisierung viel zu wenig über Standardisierung diskutiert wird. Das Ziel sollte sein, von einer beliebigen Leistung ad-hoc zu professionelleren Lösungen zu kommen, die Kundenvorteile bewirken.
Vielen Dank für das Gespräch.